21 Oktober 2023

Was ich in Palästina erlebt habe




Dies ist die Fortsetzung des Artikels: Warum ich nach Palästina fuhr 

Ich habe einen Bericht meiner Erlebnisse im Jahr 2007 bereits vor vielen Jahren auf isländisch und englisch aufgeschrieben, da ich damals in Island gewohnt habe, und alle meinen deutschen Freunde und Familienmitglieder nichts von all dem wissen wollten.
In Deutschland haben die meisten Menschen ihre Meinung über den Israel-Palästina- Konflikt. Sie stehen fest auf der Seite Israels, vor allem deshalb, weil wir mit einer schrecklichen Geschichte gegenüber dem jüdischen Volk belastet sind. Vor 20 Jahren gehörte ich auch noch zu diesen Leuten, erst als ich mich mit der Geschichte des Konflikts wirklich vertraut gemacht habe, und die andere Seite gesehen habe, verstand ich das Ganze besser. Und dann bin ich selbst nach Palästina gegangen. Und nachdem, was ich erlebt habe, konnte ich nicht mehr zurück.
Mein Herz schlägt für Palästina.
Auch in diesem Artikel beschreibe ich Ereignisse, die die Siedlungspolitik Israels in keinem guten Licht erscheinen lassen. Das heißt nicht, dass ich glaube, dass die jetzt in Israel lebenden und meist dort geborenen Menschen, nicht mehr in diesem Land leben sollten. 
Ich wünsche mir nur, genau so wie inzwischen die meisten anderen jüdisch-israelischen und die muslimisch- und christlich-palästinensischen Friedensaktivisten, dass unbedingt die Grundlagen dafür geschaffen werden, dass ein friedliches und gerechtes Zusammenleben beider Volksgruppen in einem gemeinsamen Land möglich wird. Denn nach all diesen Jahren hat der Staat Israel durch seine konstante illegale Siedlungspolitik sich selbst die Möglichkeit einer echten Zweistaaten-Lösung auf dem Gebiet Palästinas zerstört. So bleibt eigentlich nur eine Einstaaten-Lösung, ein einziger demokratischer Staat mit gleichen Bürgerrechten für alle Bewohner des Gebietes von Israel und Palästina. 

Jerusalem

Nachdem ich in Palästina angekommen war, habe ich die ersten Tage in Jerusalem verbracht.

Dort traf ich eine Familie deren Mitglieder beinahe alle irgendwann einmal verhaftet und für Jahre aus politischen Gründen in Israel eingesperrt waren, sowohl die Männer als auch die Frauen.
Das ist gar nicht so ungewöhnlich für eine palästinensische Familie.
Tatsache ist, das beinahe ein Drittel der männlichen Bevölkerung Palästinas irgendwann einmal für längere Zeit im Gefängnis war.
Für Frauen ist dieser Prozentsatz zwar niedriger, aber es ist auch nicht ungewöhnlich, dass Frauen eingesperrt werden.
Meine Freunde waren alle Mitglieder einer linken Partei. Es war eine Partei, die einmal legal gewesen war, aber dann vom Staat Israel verboten wurde. Ein Sohn war gerade 17 Jahre alt, als verhaftet wurde, einzig weil er ein Mitglied dieser Partei war.
Seine Mutter hatte Abendessen für eine Frauenversammlung organisiert. Gerade als sie das Essen servieren wollte, brachen israelische Soldaten die Türen auf. Sie versuchte zu fliehen, und nur für diesen Versuch, wurde sie zu vier Jahren Gefängnis verurteilt.

 Als gute Katholikin bin ich in Jerusalem  natürlich auch den traditionellen Pilgerweg, die Via Dolorosa, die Straße der Schmerzen, gegangen, und habe dort die Kreuz-Stationen mitgebetet. Nach christlicher Tradition ist dies der Weg, den Jesus selbst mit seinem Kreuz auf dem Rücken gehen musste.
In den Kirchen überall auf der Welt werden diese Gebets-Stationen während der Fastenzeit gebetet. Sie sind eine Erinnerung an das Leiden Christi.
In Jerusalem jedoch, werden diese Gebete auf der Via Dolorosa in einer Prozession jeden einzelnen Freitag im Jahr gebetet.


Der Weg führt durch die Altstadt hinauf zum Kalvarienberg, wo heute die Kreuzigungskirche steht.

Übrigens steht diese Kirche, gebaut über einem der heiligsten Orte der christlichen Tradition gleich neben der Al Aqsa Moschee, dem drittheiligsten Ort des islamischen Glaubens.

Jeden Freitag des Jahres führt eine Gruppe Franziskaner-Mönche die Pilger an.


 
 Ich war ein bisschen überrascht, dass die Via Dolorosa zumeist eine einfache Einkaufsstraße war, wie ein Basar, auf dem alle möglichen Artikel verkauft wurden, sei es nun Kleidung, religiöse Artikel, oder Sachen des täglichen Bedarfs.
Aber das war wohl gar nicht so anders zu Zeiten Jesu. Der Weg, auf dem Jesus und die anderen verurteilten Gefangenen nach Golgota gebracht wurden war auch so eine Straße an der die Menschen ihren normalen Geschäften nachgegangen sind.
An jeder Station des Kreuzweges, an der wir anhielten und beteten, warteten die meist muslimischen Passanten geduldig darauf, dass wir uns an den Hauswänden der engen Gassen aufstellten, damit sie danach an uns vorbeigehen konnten, meistens lächelten sie uns dabei freundlich an.
Fast genauso war es ein paar Stunden davor zur Mittagszeit gewesen: Da mussten wir Christen warten, während die muslimischen Menschen nach Abschluss des Freitagsgebets in großen Scharen aus der AlAqsa Moschee strömten, und dadurch für eine ganze Weile die engen Straßen in der ganzen Jerusalemer Altstadt blockierten. 
 An jeder Station des Kreuzweges gaben die Franziskaner Mönche, die unser Gebet anführten, uns ein Zeichen, dass wir Rücksicht auf die Passanten nehmen sollten, und das taten wir auch.
 Aber dann wurde ganz plötzlich die Normalität unterbrochen. Wie hatten gerade an der 8. Kreuzwegs-Station angehalten, da kam eine Gruppe von Leuten in westlichen Kleidern uns entgegen. Die erste der Gruppe war eine Frau. Doch statt ein paar Augenblicke zu warten, bis wir uns an den Rand gestellt hatten, griff die Frau plötzlich den Mönch an, der ihr ein Zeichen gab, sich kurz zu gedulden. Sie schlug ganz einfach mehrere Male mit ihren Fäusten auf ihn ein, nur weil er nicht schnell genug Platz gemacht hatte. Das zu sehen, hat mich ziemlich schockiert. Die Frau war ihrer Kleidung nach bestimmt keine Muslima, und eine Christin sicherlich auch nicht. Und doch, warum würde jemand so etwas tun? Wer würde einfach so einen Mönch verprügeln? 
 
...


Bethlehem

Als ich nach Bethlehem kam, erfuhr ich, dass in Palästina Muslime und Christen gute Freunde sind. Es gibt keinen Unterschied in der Unterdrückung, die beide Gruppen erleiden müssen. Ich habe gesehen, dass der Geburtsort Jesu von hohen Mauern eingeschlossen ist. Und wenn Maria und Josef heute lebten, könnten sie den kleinen Jesus weder nach Jerusalem noch nach Nazareth und auch nicht nach Ägypen in Sicherheit bringen.
   

Aber ich habe auch erfahren, dass der Priester, wenn er zu dem Teil in der Heiligen Messe kommt, wo er sagt: "Allmächtiger und ewiger Gott," dann sagt er auf arabisch :"Allah". Das erinnert mich daran, dass wir Christen und Muslime, in der Tat zu demselben Gott beten. Bethlehem, die Wiege des Christentums, wo der Friedensfürst geboren ist wird eines Tages Frieden sehen, einen echten und gerechten Frieden, da bin ich mir sicher.


Bi'lin, Tränengas, Schüsse and ein palästinensischer David

 

Etwa zwei Wochen nach meiner Ankunft ging ich von Hebron, wo ich die meiste Zeit verbrachte, nach Bi`lin zu einer Demonstration. Die meisten Internationalen Menschenrechtsaktivisten gingen damals mindestens einmal zu dieser Demonstration, die wöchentlich stattfand. Es war eine gute Sache das zu tun, denn wenn keine internationalen Beobachter dabei waren oder auch jüdisch-israelische Friedensaktivisten, dann wurden aus Gummi-ummantelten Geschossen, die von den israelischen Soldaten auf die Demonstranten geschossen wurden, schnell ganz normale tödliche Geschosse. Und dann starben Palästinenser, wie so viele Male zuvor. Die Israelis glaubten lange, dass es allen anderen Leuten in der Welt gleichgültig war, wieviele Palästinenser von ihnen getötet wurden, aber jetzt mit den internationalen Beobachtern und den israelischen Friedensaktivisten anwesend da waren sie etwas vorsichtiger. Aber selbst das hindert die israelischen Soldaten nicht immer daran, tödliche Schüsse abzugeben.
Wenn ihr euch das Bild rechts  von einer Bi`lin Demonstration anschaut, da ist es der zweite Mann von links, der  im Jahr 2009 bei genau so einer Demonstration getötet wurde. 
Ein Tränengaskanister wurde ihm aus kurzer Entfernung direkt an die Brust geschossen. 
Sein Name war Basem Ibrahim Abu Rahmeh, er war 30 Jahre alt und der 16. Palästinenser, der bei einer Bi`lin Demonstration getötet wurde.
Abu Rahmeh starb einen Monat nachdem der amerikanische Menschenrechtsaktivist Tristan Anderson mit eben so einer Waffe direkt an den Kopf geschossen und ins Koma gebracht wurde, aus dem er nie mehr erwachen sollte.
Zwei Monate zuvor waren zwei jugenliche Palästinser, Mohammed Khawajeh und Araft Khawajeh bei einer ähnlichen Demonstration gegen die Landraub-Mauer in dem Dor Ni`lin getötet worden.
In Bi'lin dachten die Israelis sie hätten mit dem dem Bau dieser Mauer, die dem Dorf 60% ihres Ackerlandes raubte, bereits unverrückbare Fakten geschaffen. Aber selbst als dieser Mauerabschnitt fertiggestellt worden war, gaben die Menschen aus dem Dorf nicht auf.
Als ich nach Bi`lin kam, hatten sie bereits 2 Jahre lang jeden Freitag protestiert, sie protestierten als der Bau begonnen wurde, als er fortgeführt wurde und nachdem er, zumindest der Abschnitt in Bi'lin, fertiggestellt worden war. 
Mauern müssen nicht für immer stehen bleiben, ganz gleich wie hoch und stark sie erscheinen mögen. Sie können auch niedergerissen werden, das wissen wir Deutschen doch.
An dem Tag, an dem ich dort in Bi`lin war, demonstrierten wir mit etwa 100 Leute, die meisten von ihnen waren Palästinenser aus dem Dorf. Sie sangen Lieder, riefen Slogans und hielten handgemalte Schilder hoch. Sie gingen von ihrem Dorf in Richtung der Mauer. Vorneweg fuhr ein Mann in einem elektrischen Rollstuhl. Er und eine kleine Gruppe von Palästinensern erreichten die in Reihe stehenden israelischen Soldaten zuerst, und diese Leute wurden sofort eingekreist und verhaftet.
Ich war dann in der zweiten Gruppe. Wir standen den Soldaten direkt gegenüber. Die Leute um mich herum versuchten mit den Soldaten vernünftig zu reden.
   
Aber die Soldaten wollten nicht reden. Sie holten die orangen Tränengasgranaten hervor und richteten ihre Waffen auf uns. 
Ich wollte weglaufen, aber ich wusste, das ich in diesem unebenen Gelände nicht schnell genug laufen konnte, also drehte ich mich mit dem Rücken zu den Soldaten, zog meinen Kopf ein und hoffte, dass mein Rucksack mich ein bisschen vor allen Geschossen schützen würde. Ich hatte bereits gehört, dass die Soldaten die Tränengasbehälter meist mit dafür vorgesehen Kanonen abschossen, und oft nicht in die Ferne, sondern direkt auf die Leute vor ihnen.
Der erste Tränengasbehälter landete direkt neben mir. Es war der dickste Nebel der Welt, er machte mich erst mal blind, und ich konnte nicht mehr atmen. Mir war gesagt worden, dass das die Wirkung der Nervengas-Chemikalie sei, die würde dem Gehirn vormachen, dass atmen unmöglich sei und man ersticken würde. Es brannte natürlich auch in meinen Augen, meiner Nase und meiner Kehle. Ich versuchte der Nebelwolke zu entkommen, aber ich hatte auch kein Gefühl für Richtungen mehr. Stattdessen stolperte ich blind durch die Gegend und fiel am Ende hin.
   
Jemand fiel direkt hinter mir hin. Er schrie laut auf. Als ich wieder etwas sehen konnte, drehte ich mich um und sah einen palästinensischen Mann da liegen, zitternd vor Schmerzen. Immer noch desorientiert stand ich auf und stolperte herum. Doch ein paar Sekunden später kamen andere Palästinenser und versorgten den verletzten Mann. Ich konnte jetzt sehen, dass er blutete. Später erfuhr ich, dass er von zwei von Gummi ummantelten Kugeln getroffen worden war, die aber wegen des geringen Abstands trotzdem am Unterleib und in sein Bein eingedrungen waren. Er brauchte eine lebensrettende Operation, und einige Tage lang war sein Zustand kritisch.
Danach folgte ich einer Gruppe von anderen internationalen Beobachtern. Als eine Truppe Soldaten an uns vorbei Richtung Dorf liefen, beschlossen meine Freunde ihnen zu folgen, um zu sehen, ob diese Soldaten das Dorf jetzt direkt angreifen wollten. Später erfuhr ich, dass die Soldaten wirklich direkt in die Häuser der Menschen schossen, wo die alten und kranken, die schwangeren Frauen und die kleinen Kinder zurückgeblieben waren.
 
Die  Soldaten die ich sah, schossen mehr und mehr Tränengasgranaten überall und in alle Richtungen, dann drehten sie sich um. Voller Angst  fragte ich mich ob diese Soldaten uns jetzt von beiden Seiten angreifen würden. Kurz darauf wurde ich von einer zweiten Tränengaswolke eingehüllt.
Meine Freunde folgten wieder den Soldaten, um zu sehen, was sie jetzt tun würden, aber ich blieb zurück, weil ich kaum noch gehen konnte. Eine Zeit lang stand ich ganz allein da, dann kam eine andere Truppe Soldaten direkt in meine Richtung gerannt. Inzwischen war ich so panisch, dass ich mich am Liebsten hinter einem Felsen verstecken hätte. 
Aber mir war gesagt worden: "Du darfst dich auf keinen Fall verstecken, wenn die Soldaten dich entdecken, dann glauben sie, dass du irgendeinen Angriff aus dem Hinterhalt planst, und dann erschießen sie dich."
Also stand ich nur still da, mit erhobenen Händen, bis sie vorbeigelaufen waren. Als ich dann endlich meine Freunde wieder eingeholt hatte, kamen noch mehr Soldaten, gefolgt von Armeefahrzeugen. Sie schubsten uns zur Seite. 
Einer der Soldaten sah mich zittern und sagte: "Hab keine Angst, wir tun euch doch gar nichts."
Keine Angst, so was ist leicht gesagt. Ich war es einfach nicht gewohnt, mit Tränengas beschossen und mit Knüppeln und Gewehren zur Seite gestoßen zu werden. Also zitterte ich weiter.
Und kurze Zeit darauf wurden meine Freunde und ich zum dritten Mal direkt mit dem Tränengas beschossen, das einem den Atem nahm und von dem einem die Augen brennen. Daran hatte ich mich inzwischen gewöhnt.
Als wir den Ort der Demonstration über die Felder hinweg endlich verlassen konnten, hatte ich mehr als genug.
Und doch hatte ich kurz vor Ende der Demonstration noch etwas gesehen, was mir für immer im Gedächtnis bleiben wird: 
Das war der Junge mit der Schleuder an dem wir vorbeigingen.
Die Demonstration war bis jetzt, auf der Seite von uns Demonstranten jedenfalls, völlig gewaltlos geblieben. 
Und ja eine Schleuder ist auch eine Waffe.
Aber die Soldaten hatten Helme und Schutzschilde und sie waren sehr weit entfernt, die waren nicht in Gefahr.
Ich sah wie die Soldaten mit scharfen Waffen auf den Jungen zielten, der dort weit von ihnen entfernt auf dem Hügel stand, mit der Waffe des Hirtenjungen David.
Es war keine Gummischleuder(wie auf dem Bild ). Es war eine Drehschleuder, eine, in die man einen Stein in einen kleinen Beutel legt. Und der Junge drehte und drehte seine Schleuder über seinem Kopf, bis er dann endlich den Stein fliegen ließ, wie David als er den Riesen Goliath bekämpfte. Ob es fünf Steine waren oder nur einer, das weiß ich nicht, und ob der Junge irgendetwas getroffen hat, weiß ich auch nicht.
Aber ich weiß, dass die Soldaten weit weg unten am Hügel mit scharfen Waffen auf ihn zielten. Und trotzdem hatte ich in diesem Moment keine Angst um ihn. Die Soldaten haben den Jungen nicht getroffen. 
Denn Goliath gewinnt nicht, nicht gegen David.
Zehn Leute wurden an jenem Tag verhaftet, vier wurden schwer verletzt und keiner getötet... diesmal.
 ...

Hebron


In Hebron habe ich als Freiwillige bei der internationalen Soldaritätsbewegung,
  ISM , gearbeitet. Das ist eine Menschen- und Bürgerrechtsorganisation in Palästina. Sie wird von Palästinensern geleitet und von internationalen Freiwilligen unterstützt. ISM hat sich der Philosophie der Gewaltlosigkeit verpflichtet. Alle Freiwilligen werden in  deren Methoden unterrichtet, wobei sie ein Training in strategischer Gewaltlosigkeit erhalten. Trotz dieses Bekenntnisses zur Gewaltlosigkeit hasst die israelische Regierung diese Organisation und porträtiert ihre Mitglieder als gefährliche Radikale.
Oft habe ich von Europäern und Amerikanern die Frage gehört: "Warum gibt es denn keinen palästinensischen Ghandi". 
Die Antwort ist einfach: Es gibt zehntausende von "Ghandis" in Palästina, und zwar seit vielen, vielen Jahren, Menschen, die sich dem gewaltlosen Kampf für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung verschrieben haben. Die meisten von ihnen haben bereits Jahre in israelischen Gefängnissen verbracht. Aber kaum jemand hört von ihnen außerhalb Palästinas, denn die westlichen Medien porträtieren die Palästinenser viel lieber als gewalttätig, so dass sie dann die israelische Aggression gegen diese Menschen zur Selbstverteidigung erklären können. 



Hebron (Al Khalil auf arabisch) ist sowohl gemäß islamischer als auch christlicher und jüdischer Tradition der Ort der Grabstätten der Patriarchen Abraham und Isaak und deren Frauen Sarah und Rebekkah. Das Bild rechts zeigt zwei der Grabstätten.
Das Gebäude darum ist heute die Al Ibrahimi Moschee.


Am 25. Februar 1994 verschaffte sich der radikale israelische Siedler Baruch Goldstein Zugang zu dieser Moschee. Bewaffnet mit Handgranaten und einem Maschinengewehr und eröffnete er das Feuer auf die Menschen, die dort beteten. Er tötete 30 Palästinenser und verwundete etwa 270 andere, bevor er von den Palästinensern überwältigt und selbst getötet wurde.

  
Nach diesem Vorfall wurde die Moschee für etwa ein halbes Jahr von den israelischen Behörden geschlossen. Nach der Wiedereröffnung war die Hälfte der Moschee in eine Synagoge umgewandelt worden.
Die Palästinenser sagen, die jüdischen Siedler haben sich ihre Synagoge mit dem Blut von Palästinensern erkauft.




Für Palästinenser ist in Al Khalil, das ist der arabische Namen der Stadt Hebron im Westjordanland, kein normales Leben möglich. 
Im Jahr 2007 lebten hier über 160.000 Palästinenser.










Doch ein großer Teil der Innenstadt ist für alle palästinensischen Autos gesperrt, angeblich zur Sicherheit der nur 700 israelischen Siedler, die auch in der Stadt leben (offiziell waren es damals 700 Siedler; Palästinenser sagten mir aber, dass sie zu keinem Zeitpunkt mehr als 400 Siedler in Hebron gezählt hatten. Allerdings gibt es eine größere, völlig umzäunte Siedlerkolonie, namens Kyriat Arba, direkt neben der Stadt). 
Diese Siedler werden von 1800 israelischen Soldaten beschützt.
 Während die israelischen Siedler überall herumfahren dürfen, war es im abgesperrten Teil von Hebron Palästinensern über 16 Jahren nicht einmal erlaubt Fahrrad zu fahren. Wenn sie Glück hatten, durften sie einen kleinen zweirädrigen Karren durch den Checkpoint schieben, um schwere Gegenstände zu transportieren. 
Doch oft durften nicht einmal diese Wagen die Kontrollpunkte passieren. Normalerweise mussten die Menschen alles, was sie von draußen kauften, die steilen Hügel hinauftragen, einschließlich der Rohlederballen für die kleinen Schuhmanufakturen sowie der fertigen Schuhe, die sie im anderen Teil Hebrons verkaufen wollten. 
 Einmal sah ich drei Teenager, die eine neue, noch eingepackte Waschmaschine durch die Feldwege der Olivenhaine trugen. Ich sah ihre Mutter vor dem Haus auf sie warten.
 

An Schultagen sah ich oftmals drei andere Teenager, die ihren behinderten Bruder oder Freund den steilen Hügel hinaufschoben. Sie schienen daran gewöhnt zu sein. Dennoch mussten sie auf halber Höhe anhalten und durchatmen.

Auf halber Höhe anhalten um zu Atem kommen, musste ich auch, selbst wenn ich überhaupt nichts zu tragen hatte. 
 Jeden Tag sah ich  dort auch einen Milchmann, der als einziger mit seinem Esel als Transportmittel am Kontrollpunkt vorbei passieren durfte. Er transportierte mit seinem Tier schwere Milchflaschen und andere Verkaufswaren zu dem kleinen Geschäft oben auf dem Berg.

 Zu den Dingen, die die Menschen regelmäßig bergauf tragen mussten, gehörten auch die schweren eisernen Gasflaschen, die sie zum Kochen ihrer Mahlzeiten an ihre Gasherde anschlossen, da es in Hebron keine Gasleitungen gab. 

Gelegentlich mussten die Menschen Kranke und Verletzte nach unten tragen, da es oft viel zu lange dauerte, bis der palästinensische Krankenwagen die Erlaubnis zum Passieren des Checkpoints erhielt. 

Ein Freund erzählte uns, dass er, als bei seiner Frau die Wehen einsetzten und er sie ins Krankenhaus bringen wollte, über zwei Stunden auf die Erlaubnis des Krankenwagens wartete, diese aber nie kam. Am Ende musste er sie selbst mitten in der Nacht auf seinen Armen durch die Olivenhaine tragen, obwohl es dort keinerlei Licht gab.

 (Ich bin auch einmal mit meinen ISM Kollegen nachts durch die Olivenhaine gegangen, und es ist dort nachts wirklich dunkel und schwer nicht über Gras und Wurzel zu stolpern.) 
Er konnte die Straße nicht entlanggehen, da sein Haus direkt zwischen einer der kleinen israelischen Siedlungen und einer Militärstation lag. Wenn er also nachts ohne Erlaubnis dort auf der regulären Straße vorbeigekommen wäre, wären er und seine Frau erschossen worden. Ich kenne diesen Ort und ich weiß, dass er damit nicht übertrieben hatte. Die Soldaten und die Siedler sind an dieser Stelle besonders schießfreudig. 
Ich sah auch einmal, wie seine Frau mit ihrem Baby tagsüber auf der Straße an dem Siedlerblock vorbeiging, und ein paar Siedler versuchten Mutter und Kind zu steinigen. 


Natürlich sind selbst die Olivenhaine für Palästinenser nicht wirklich sicher, nicht einmal am hellichten Tag. 
Die jungen Siedler versammeln sich dort in Gruppen und überfallen jeden Palästinenser, der dort sein Land bearbeitet will oder seine Schafe hütet, mit einem Steinhagel. Dasselbe passierte dann auch manchem ISM-Aktivisten, der es gewagt hatte, dort alleine herumzulaufen. 

An den Checkpoints, die aus Israel herausführten, mussten Palästinenser und Ausländer durch Metalldetektoren gehen und alle Taschen wurden kontrolliert. Das dauerte meist viele Stunden, und an diesen Kontrollpunkten sind auch schon eine Reihe von Babies geboren worden, da die Israelis noch nicht einmal in Notfällen Rücksicht auf die rechtlosen Menschen nahmen.

 An den kleineren Checkpoints überall in den Palästinensergebieten – und es gab damals bereits hunderte davon  – wurden die Taschen auch immer wieder kontrolliert und Leibesvisitationen durchgeführt, oft mitten auf der Straße. Die von Israel kontrollierte Zone Hebrons, in der wir arbeiteten hatte besonders viele Checkpoints.

Palästinensische Männer mussten dort meist ihre Hemden, Unterhemden und Hosenbeine hochheben und sich dann im Kreis drehen.
Oft wurden sogar kleine Jungen so behandelt. Frauen wurden normalerweise mit Metalldetektoren überprüft; Auch Kinder, sogar die kleinen Erstklässler, die auf dem Weg zur Schule in diesem Distrikt waren, wurden dort mehrmals täglich gecheckt. Manchmal, wenn die Palästinenser Glück hatten, wurden ihre Taschen auch mit diesen Metalldetektoren überprüft. Aber wenn die Soldaten eine andere Laune hatten und die Menschen besonders große Einkaufstüten mit sich herumtrugen, dann mussten sie diese oft direkt auf der Straße ausleeren und danach alles wieder aufklauben. 
Ich sah wie fast alle stillschweigend gehorchten. Sehr oft sah ich aber auch, wie jemand festgesetzt wurde, das hieß, sein Personalausweis wurde ihm abgenommen und überprüft, wobei das Militärkommando angerufen wurde. Und dann musste die Person von einer halben Stunde bis zu über einer Stunde lang warten, bis die Soldaten von ihren Vorgesetzten einen Freigabeanruf erhielten, der bestätigte, dass die festgesetzte Person nicht wegen irgendeines angeblichen Regelverstoßes gesucht wurde. 

Wenn ein Palästinenser mit Worten gegen eine besonders demütigende Behandlung protestierte, wurde die Polizei gerufen und er wurde auf die Wache gebracht, wo er mehrere Stunden lang festgehalten wurde, und fast immer auch noch eine Geldstrafe bezahlen musste, bevor er dann freigelassen wurde. Aber in den meisten Fällen  wurden Palästinenser, insbesondere junge Männer, aus keinem anderem Grund festgenommen, als dass sie die Straße  entlanggegangen waren. 

Nur wenige Leute wagten es, an diesen Checkpoints auf irgendeine Weise verbal aufzubegehren, denn wenn die Soldaten beschlossen statt der zivilen Polizei die Militärpolizei anzurufen, dann wurde der  Palästinenser zum Militär-Stützpunkt gebracht, und dort wurde er sehr häufig auf die eine oder andere Weise gefoltert, also zumindest verprügelt, und manchmal noch Schlimmeres. 

Wenn ein Palästinenser politischer Aktivitäten verdächtigt wurde, dann wurde er häufig einer sogenannten Nicht-anfass-folter ausgesetzt, das heißt, er wurde viele Stunden oder sogar Tage lang in einer unbequemen Position angekettet, bis jeder Muskel in seinem Körper schmerzte. Weiterhin gehörte dazu auch noch Schlafenzug durch laute Musik oder kreischende Geräusch. Dem Gefangenen wurde dabei ein Sack über den Kopf gestülpt, der normalerweise mit Kot verschmiert war, so dass ihm von dem Gestank bereits übel wurde. Mehrere meiner palästinensischen Freunde erlitten diese Art von Folter in der Untersuchungshaft, bevor sie dann für Jahre ins Gefängnis kamen.

 Einer meiner Freunde erzählte mir, dass der Gefängnisaufenthalt ihm trotz allem auch etwas gebracht hatte: Bevor er ins Gefängnis gekommen war, sei er völlig ungebildet gewesen, erklärte er, aber im Gefängnis habe er dann ziemlich viel gelernt. Die Palästinenser in dem Gefängnis, in das er gebracht wurde, seien richtig gut organisiert gewesen. Sie hatten sich durch Hungerstreiks bestimmte Dinge ausgehandelt, wie Bücher, Stühle und Tische. Für alles, was sie in der Art haben wollten, mussten die Gefangenen jeweils einen neuen Hungerstreik organisieren, erzählte mir mein Freund. 
Die Anführer der Häftlinge  befahlen danach allen anderen Gefangenen, jede Woche drei Bücher zu lesen, eines über Politik, eines über Religion und dann noch einen Roman. 
Nachdem  der ältere Palästinenser mir das alles erklärt hatte, schaute er seinen jüngeren Freund an und meinte: „Aber heutzutage haben sich die Dinge wohl geändert, das Gefängnis zu deiner Zeit ist nicht mehr so gut.“ 
Der junge Palästinenser antwortete daraufhin: „Aber auch heute noch kommen alle guten Männer ins Gefängnis.“
Dann wandte er sich an mich: „Wissen Sie, in allen anderen Ländern der Welt sitzen die schlechtesten Menschen im Gefängnis. Nicht hier – in Palästina sind es immer die Besten.“ 

Hebrons Shuhada-Straße war einst eine der reichsten Einkaufsstraßen in ganz Palästina.
 Dann wurden dort alle Geschäfte geschlossen. Drei Jahre lang galt im ganzen Stadtbezirk eine totale Ausgangssperre – niemand durfte auch nur zu Fuß durch die Straßen gehen. Die Menschen mussten auf die Dächer und sich dort von Dach zu Dach fortbewegen, wenn sie das Haus verlassen wollten, um Essen einzukaufen oder zur Arbeit oder sogar zur Schule zu gehen. 
Die Haustüren der drei Familien, die zwischen den beiden kleinen dortigen israelischen Siedlungen lebten, wurden zugeschweißt. Auch nachdem die totale Ausgangssperre aufgehoben worden war, blieben die Türen zugeschweißt und die Familien mussten die Hinterausgänge benutzen.
Auch palästinensischen Familien, die auf der anderen Straßenseite wohnten, war es noch immer nicht gestattet, an den Siedlungen vorbeizugehen oder die Häuser dazwischen zu besuchen.
 Die Bewohner der Häuser oberhalb der Shuhada-Straße und die Kinder, die dort die Schule besuchten, mussten Treppen und Umwege benutzen, da es ihnen verboten war, auf der Straße zu gehen, die an den Siedlungen vorbeiführte. 

Aber auch wenn die Palästinenser alle von den Besatzungsbehörden festgelegten Regeln befolgten, wurden sie immer noch nicht in Frieden gelassen. Sie wurden ständig von Siedlern schikaniert, sogar auf den Straßen oder Wegen, auf denen es Palästinensern erlaubt war zu Fuß zu gehen.

Die Belästigung palästinensischer Frauen und Kinder schien tatsächlich eine Art Siedlersport zu sein. Sie lachten dabei, es machte ihnen offensichtlich großen Spaß. 

Oftmals erfolgten diese Angriffe jedoch nicht nur als pure Schikane sondern viel mehr systematisch. Sie wurden durchgeführt, um durch ständige Terror-Kampagnen die palästinensischen  Bewohner aus ihren Häusern zu vertreiben, damit die israelischen Siedler ihr Territorium vergrößern konnten. Einige Siedler haben diese Taktik tatsächlich im Interview vor der Kamera zugegeben, während sie davon ausgingen, dass der Reporter, der das Interview führte, ein amerikanischer Jude war, der mit ihrer Sache sympathisierte.

Die israelischen Soldaten, die an den verschiedenen Kontrollpunkten in der Altstadt stationiert waren, griffen praktisch nie zugunsten der Palästinenser ein. Einmal fragte ich einen Soldaten, warum er bei so einem Siedlerangriff nicht eingreifen würde, und er sagte mir, dass dies nicht seine Aufgabe sei; er sei dort ausschließlich, um die Juden zu beschützen. 
Aber wenn ein Palästinenser sich jemals wehrte, auch wenn es ein kleines Kind war, wurde es verhaftet. 

Diese Situation war der Grund, warum internationale Menschenrechtsaktivisten die Straßen mit ihren Kameras überwachten oder die Wege und Olivenhaine patrouillierten. Wir hofften, dass wir allein durch unsere Anwesenheit Belästigungen und Angriffe der Siedler auf die Palästinenser verhindern konnten. Und wenn es nötig war, sollten die Internationalen auch mit gewaltfreien Mitteln eingreifen. Internationale versuchten auch, das Verhalten der Soldaten gegenüber den Palästinensern zu überwachen. An Kontrollpunkten, an denen es keine internationale Präsenz gab, oder in Gaza, wo Ausländer oft nicht einmal hineinkamen, waren Menschenrechtsverletzungen meist weitaus schlimmer. 

Es stimmt, internationale Menschenrechtsaktivisten fungierten hin und wieder auch als menschliche Schutzschilde für Palästinenser, die angegriffen wurden.  Für mich erschien das nur allzu logisch, der einzig mögliche Weg, um seine Unterstützung für universale Menschenrechte wirklich zu zeigen. 
Auf der einen Seite ist da ein ganzes Volk von Menschen ohne jegliche Rechte: die Palästinenser. 
Und auf der anderen Seite sind da die internationalen Menschenrechtsaktivisten, Leute, die immer noch einen gewissen Schutz durch die Botschaften ihrer Heimatländer genießen.
 Als Menschenrechtsaktivist, der seine Arme ausbreitet, um einer Palästinenserin und ihrem Baby zu helfen, sich vor einem Steinhagel in Sicherheit zu bringen, gehst du davon aus, dass die Siedler aufhören werden mit dem Steinewerfen, wenn du näher kommst. 
Denn, wenn ein Palästinenser verletzt oder gar getötet wird, dann wird das zu einer Statistik. Der Vorfall kümmert niemanden,  außer der Familie oder den Freunden dieses Menschen. Für die israelischen Täter gibt es keine oder kaum Konsequenzen.  Wenn  hingegen sie dich als Ausländer schwer treffen, könnte das zu einem diplomatischen Problem für Israel werden, und deshalb werden die Siedler und die Soldaten sich eher zurückhalten. Darauf vertraust du und bleibst standhaft. 
Es gibt aber Zeiten, in denen sie sich nicht zurückhalten – weder die Siedler noch die Soldaten noch andere Vertreter des Staates Israel. 
Rachel Corrie, ein junges amerikanisches Mädchen wurde getötet, als sie einem riesigen israelischen Bulldozer mit ausgebreiteten Armen entgegengetreten war. Der Bulldozer sollte das Haus eines Arztes und seiner Familie in Gaza abreißen, genau wie das mit den Häusern von tausenden von Palästinensern geschehen ist. Das war zu der Zeit kurz bevor die Israelis die Siedler und die Armee aus dem Gazastreifen zurückgezogen, und stattdessen diese kleine von über 2 Millionen Palästinensern bewohnte Enklave total einzuschließen und regelmäßig von außen oder von oben zu beschießen. 
Die Leute von ISM, die die Augenzeugen des Vorfalls persönlich kannten, haben mir erzählt, dass Rachel dem Fahrer damals direkt in die Augen geschaut habe. Sie musste sich sicher gewesen sein, dass er stoppen würde. Sie hatte auf seine Menschlichkeit vertraut. Und als ihr klar wurde, dass er nicht stehenbleiben würde, war es bereits zu spät, sie konnte nicht mehr entkommen. 
Manchmal stoppen sie einfach nicht...
Und obwohl internationale Menschenrechtsaktivisten nur in Einzelfällen schwer verletzt oder gar getötet wurden, so wurden doch die meisten irgendwann körperlich angegriffen, und alle wurden häufig beschimpft oder bedroht. Immer wieder wurde uns Antisemitismus und Judenhass vorgeworfen, selbst denen von uns, die selbst jüdischer Abstammung waren.
Wir durften uns davon nicht einschüchtern lassen. 
 Ein erfahrener Menschenrechstaktivist erklärte er uns Neuankömmlingen, während er uns eine Einführung zu den Verhältnissen in Hebron gab, dass wir, wenn wir genäht oder anderweitig zusammengeflickt werden müssten, in ein palästinensisches Krankenhaus gehen sollten, da „das Zusammenflicken“ dort kostenlos sei. 
Er selbst hatte diese Dienste des Krankenhauses mehrmals in Anspruch nehmen müssen. Einmal wurde er von Siedlern die Gartentreppe in den Olivenhainen hinuntergeworfen. Ein anderes Mal wurde er von Soldaten zusammengeschlagen.
Ich selbst brauchte nur einen solchen Krankenhausbesuch, ich war dabei aber kaum verletzt worden. Es war der Kollege, der bei mir war, der eine Gehirnerschütterung davongetragen hatte.
 Ich wurde nur bei zwei Gelegenheiten körperlich angegriffen. Beim zweiten Mal hatten Siedler-Teenager einen Kollegen und mich eingekreist, um unsere Kamera zu schnappen und zu zerstören. Die jungen Männer hatten gerade mehrere Palästinenserkinder angegriffen.
Als wir uns einmischten, indem wir laut riefen und auf sie zu rannten, um den Palästinensern so eine Chance zur Flucht geben, sahen die Siedler die Kamera und dachten, wir hätten alles gefilmt. 
Mein ISM-Begleiter wurde von hinten angegriffen. Dabei wurde er mit einem Stein zu Boden geschlagen. Am Boden liegend wurde er weiter unerbittlich geschlagen und getreten. 
Ich schrie so laut ich konnte und versuchte, einen der Angreifer zu packen und von meinem Kollegen wegzuziehen. Dabei wurde ich dann von dessen Freund mit einem Sprung in den Bauch getreten, was einen großen blau-schwarzen Fleck in Form eines Schuhabdrucks hinterließ, der mich noch Wochen später an das Ereignis erinnerte. Danach hatte ich eine Art Blackout, so dass ich weder den Schmerz spürte noch mich an die Gesichter der Angreifer erinnern konnte. 
Das machte mich natürlich zu einer furchtbar schlechten Zeugen, als ich nach dem Krankenhausaufenthalt die übliche und völlig nutzlose Anzeige auf der israelischen Polizeiwache erstattete. Während ich da war, machte die  Polizei uns ISM-Aktivisten für den Angriff selbst verantwortlich. Wir hätten die Siedler schließlich provoziert, da wir an einem Sabbath mit der Kamera gefilmt hätten. 
So aufgewühlt war ich, dass die Polizisten es wirklich schafften, dass ich mich danach für die Gewalt, die meinem Kollegen und mir angetan worden war, irgendwie verantwortlich fühlte.  Als ich also den Angriff im ISM-Hauptquartier in Ramallah meldete, während mein Begleiter noch mit einer Gehirnerschütterung im Krankenhaus lag, dachte ich, ich müsste sogar unsere eigenen Leute davon überzeugen, dass wir, mein Begleiter und ich, die Siedler  „wirklich, wirklich nicht provoziert“ hatten. Wir hatten erst angefangen zu filmen, nachdem die Siedler die Palästinenserkinder bereits angegriffen hatten. 
Nur wenige Tage später wurde derselbe ISM-Kollege von israelischen Soldaten misshandelt, als wir an einer Demonstration außerhalb von Hebron teilnahmen, wo Israel wieder einmal palästinensisches Ackerland beschlagnahmte und Obstbäume entwurzelte, um an der Stelle dort jüdische Siedlungen zu erweitern. 
Mein Begleiter hatte sich gemeinsam mit einer Gruppe von palästinensischen Demonstranten auf den Boden gesetzt, um den Bulldozern den Weg zu versperren. Um ihn von dort zu entfernen, packten  die Soldaten ihn an den Füßen, um ihn dann auf dem Rücken liegend lange über einen Schotterweg zu schleifen, bevor sie ihn endlich aufstehen ließen, ihm Handschellen anlegten und ihn verhafteten. 
Er wurde dann nicht sofort deportiert, sondern erstmal nur aus der Gegend von Hebron verbannt.
 Natürlich hatten wir die Gewalt der Siedler nicht provoziert. Bevor die internationalen Menschenrechtsaktivisten nach Hebron kamen, hatte es weitaus mehr Gewalt gegen die Palästinenser dort gegeben. Und an Orten, an denen es keine internationalen oder israelischen Menschenrechtsaktivisten gibt, sind genau wie den Siedlern auch den Soldaten in ihrem Verhalten gegenüber den Palästinensern keinerlei Grenzen gesetzt. 
Gegenüber der israelischen Psychologin und Forscherin Nofer Ishai-Karen (selbst ehemalige Soldatin einer Besatzungseinheit im Gazastreifen) gaben eine ganze Reihe von ehemalige Soldaten, die im Gaza stationiert gewesen waren, in  Interviews zu, dass sie auf kleinen Kindern herumgetrampelt und ihnen die Knochen gebrochen hatten, und dass sie schwangeren Frauen in den Bauch getreten hatten. Außerdem hatten sie auch Gefangene, die sie transportieren mussten, auf alle möglichen perfiden Arten gefoltert.
Diese Forschungsarbeit wurde in einem Buch veröffentlicht, in dem Frau Ishai-Karens das Verhalten der israelischen Soldaten als eine Art kollektiven Wahnsinn darstellte, der von der Besatzungssituation selbst ausgelöst wurde.

 Ähnliche Verbrechen, wie sie in der Forschungsarbeit  beschrieben wurden, wurden auch von den Ex-Soldaten der Gruppe "Breaking the Silence" über die Besatzungsverbrechen in der Westbank berichtet. 
Palästinenser aus Hebron haben mir von furchtbaren Ereignissen zu Beginn der zweiten Intifada erzählt.  Damals patroullierte eine bestimmte Militärpolizeieinheit während der Ausgangssperre durch die Straßen von Hebron und nahm jeden gefangen, den sie draußen antrafen.  Die hatten da ein ganz bestimmtes Spiel, in dem der jeweilige Gefangene gezwungen wurde, einen Zettel aus einem Helm oder einer Mütze ziehen. Was dann auf dem Zettel stand, wurde dem unglücklichen gefangenen Palästinenser dann angetan. 
Da stand dann da zum Beispiel auf dem Zettel: "dein Arm wird gebrochen" oder "deine Finger werden gebrochen" oder "dein Bein wird gebrochen" oder "du wirst aus einem fahrenden Armeefahrzeug geworfen" oder "du bekommst eine Kugel ins Bein". Der Mann, der mir das erzählte, sagte, er habe einen jungen Teenager gekannt, der durch einen Schubs aus einem fahrenden Armeefahrzeug getötet worden war. 
Ein weiterer Mann, den mein Zeuge kannte, bekam auf diese Weise eine Kugel ins Bein und wurde danach angewiesen, bis zum Ende der Straße zu kriechen, während die Soldaten bis fünfzig zählten. Wenn er es nicht schaffen sollte, wurde ihm gesagt, würde er eine Kugel in den Kopf bekommen. Der verängstigte Mann kroch und kroch, während er die Militärpolizisten zählen hörte, aber er schaffte es nicht rechtzeitig bis zum Ende der Straße. Er wurde dann doch nicht in den Kopf geschossen, stattdessen fuhren die Soldaten einfach laut lachend davon. 
Diese Praxis der „Hutlotterie“ hörte erst auf, als der palästinensische Widerstand begann, diese sadistische MP-Einheit besonders ins Visier zu nehmen. 
Nach Ende der zweiten Intifada, wurden die Zeiten zwar etwas weniger tödlich, aber immer noch hatten die Soldaten das Recht jederzeit in die Häuser von Palästinensern einzudringen und diese temporär zu beschlagnahmen, um sie für ihre Operationen zu benutzen. Wenn die Soldaten die Häuser verließen, waren diese sehr oft teilweise demoliert, und Möbel und Wände waren mit Kot beschmiert, erzählten uns die Palästinenser. 
In diesen „relativ ruhigen“ Zeiten, in denen ich in Hebron war, ereigneten sich die schlimmsten Vorfälle  normalerweise an Samstagen, dem Siedler-Sabbat, sowie an religiösen Feiertagen. An diesen Tagen verzichteten die Siedler aus religiösen Gründen darauf, mit dem Auto zu fahren. Stattdessen gingen sie zu Fuß, wie es die Palästinenser die ganze Woche über tun mussten. Die Siedler liefen meist in großen Gruppen umher und belästigen jeden Palästinenser auf ihrem Weg. An Feiertagen feiern die Siedler, und manchmal beendeten sie ihre Feierlichkeiten mit Massenangriffen auf palästinensische Häuser.

In solchen Nächten übernachteten die IMS Aktivisten häufig bei den palästinensischen Familien, die schon früher einmal angegriffen worden waren. 
In so einer Feiertagsnacht übernachteten eine junge Engländerin und ich bei einer Familie, deren Haus nach diesen Feierlichkeiten regelmäßig angegriffen wird. 
Diesmal hatten die Siedler jede Menge Holz für ein sehr großes Lagerfeuer mitten in den Olivenhainen gesammelt. Die Feier fand direkt vor einem Haus statt, das die Siedler einige Zeit zuvor dadurch von ihren Bewohnern geleert hatten, indem sie die palästinensischen Besitzer immer wieder terrorisiert hatten. Danach hattenen die Siedler die Inneneinrichtung  zerstört und Obszönitäten an die Wände geschrieben. 
In jener Nacht drehten die Siedler ihre Lautsprecher so hoch auf, dass ihre Reden sicherlich über halb Hebron gehört werden konnten. Zwischendurch hörten wir einige Hurrarufe der gesamten Gruppe, die hauptsächlich aus jungen Männern und männlichen Teenagern bestand. Da wir alle nicht schlafen konnten, beobachteten wir die Ereignisse aus der Ferne, zusammen mit Mitgliedern der palästinensischen Familie, bei der wir wohnten. 
Damals löste das ganze Erlebnis bei mir ein unheimliches Gefühl der Unwirklichkeit aus, als wären wir irgendwie in einem Film über die Nazizeit gelandet. 
Zuerst saßen wir zusammen mit der halbwüchsigen verängstigten Tochter der Palästinenserfamilie gebückt hinter dem Steinzaun des Familiengartens und lauschten den lautstarken fanatischen Reden, und danach sahen wir die Siedlerjugendlichen singend und schreiend um das Feuer tanzen. Und schließlich sahen wir zu, wie sie eine lange Stange mit etwas daran über das Feuer  hielten. Das palästinensische Mädchen neben mir schnappte nach Luft, denn sie hatte erkannt, was da an der Stange hing. Die Siedler waren dabei, feierlich eine palästinensische Flagge zu verbrennen.
 Es war einfach nur gruselig. 
Den Rest der Nacht blieben wir wach. Im Jahr zuvor war nämlich eine Flagge nicht das Einzige gewesen, das die Siedler an ihrem besonderen Feiertag zu verbrennen versucht hatten. Eine Frau im Nebenhaus war durch die „feiernden“ Siedler so sehr terrorisiert worden, dass sie eine Fehlgeburt erlitten hatte.

Nachdem die israelischen Siedler herausgefunden hatten, dass ich eine Deutsche war, wurde es auch für mich etwas unangenehm. Ich wurde bedroht und beschuldigt, für all die sechs Millionen, die im Holocaust gestorben waren, verantwortlich zu sein. Ich fand das etwas unfair, da meine Mutter unter der Naziherrschaft eine schreckliche Kindheit gehabt hatte. 
Also erzählte ich diesen Anklägern vom jüdischen Hintergrund meiner Mutter. Von da an wurde es noch verrückter. Die Soldaten fingen an, sich über mich lustig zu machen. Eines Tages schlossen die Soldaten einen der Checkpoints für alle Palästinenser stundenlang – aus technischen Gründen, sagten sie. Natürlich hätten sie ihre tragbaren Metalldetektoren benutzen und die Leute so vorbeilassen können, wenn sie gewollt hätten. Und dazu haben wir ISM Aktivisten die Soldaten auch aufgefordert. 
Doch die Soldaten wollten es den Palästinensern nicht so leicht machen. Das war schließlich nicht ihre Aufgabe. Sie ließen  also die Leute endlos in der Hitze in einer langen Schlange stehen, bis sie dann immer wieder ein paar Leute durchließen. Nach einigen Stunden stellte ich mich auch am Ende der Schlange an und wartete darauf, dass das nächste Mal Leute durchgelassen würden.  Mir war heiß geworden, und ich wollte mir in einem Geschäft auf der anderen Seite des Checkpoints etwas Kaltes zu trinken kaufen. 
Der kommandierende Offizier erklärte mir jedoch vor der ganzen Schlange der vor mir Wartenden, dass ich als Jüdin nicht warten müsse. Ich sagte dem Soldaten mit Bestimmtheit, dass ich ein Mensch sei wie alle anderen dort, und dass ich warten würde. 
Der Offizier war übrigens ein Brite jüdischer Abstammung, der sich offenbar der israelischen Armee nur darum angeschlossen hatte, um den Spaß nicht zu verpassen, Palästinenser schikanieren zu dürfen. Während einige Siedler immer noch drohten, mein Ableben zu beschleunigen, erklärte der Anführer der Siedlergemeinschaft in Hebron laut, als er an uns vorbeiging, dass ich nach seinem Gesetz vielleicht sogar eine Jüdin sein könnte, meine deutsche Nazi-Seite schien jedoch stärker zu sein.
 Dieser Siedlerführer war übrigens ein guter Freund des verstorbenen Baruch Goldstein gewesen, den ich bereits erwähnt habe, und der die 30 Palästinenser in der Al-Ibrahimi-Moschee massakriert hatte. 
Als dieser Siedlerboss eines samstags wie üblich eine große Gruppe jüdisch-amerikanischer Besucher durch die Gegend führte, machte er sie im Vorbeigehen auf mich aufmerksam und sagte mit lauter Stimme: „Seht sie euch an. Ihre Mutter ist Jüdin und ihr Vater ist ein Nazi, und sie ist hier, um die bösen Werke ihres Vaters fortzusetzen. 

Ein anderer Siedler, der Busfahrer des Geländes, versuchte immer mal wieder meine jüdische Seele zu retten. Aber er bestand zunächst unbedingt darauf, dass ich ihm genau erzählte, wie viele jüdische Großeltern ich wirklich hatte. Ich schätze, er musste sicherstellen, dass meine Seele es wirklich wert war, gerettet zu werden. Er sagte meiner Aktivistenfreundin, die bei einem dieser seelenrettenden Versuche neben mir stand, sie solle den Mund halten. Er würde nicht mit so einer wie ihr reden, da ein jüdischer Mensch in seinem Buch tausendmal mehr wert sei als Leute wie sie.
 Aber der Seelenrettungsversuch des Busfahrers beeinträchtigte nicht seine anderen „Siedlerpflichten“, die in erster Linie darin bestanden, den Palästinensern das Leben zur Hölle zu machen. 
Als eine der Töchter des Busfahrers behauptete, sie und zwei andere kleine Mädchen seien gerade von zwei palästinensischen Teenagern angegriffen worden, bestand er auf der Verhaftung dieser Jungen. Wir waren mit den beiden Jungen den ganzen Weg den Hügel hinaufgegangen und wussten, dass die kleinen Mädchen uns weit voraus gewesen waren. Die Jungen waren nicht einmal in ihrer Nähe gewesen. Stolz hatten sie mit uns ihr Englisch geübt und uns gezeigt, wie gut sie in der Schule gelernt hatten. Und dann wurden sie von den Soldaten festgenommen. 
„Bitte“, versuchte ich mit meinem Möchtegern-Seelenretter zu argumentieren, „Diese Jungs sind unschuldig. Wir waren dort, wir haben es gesehen. Sie kennen mich doch, ich würde es niemals zulassen, dass jemand einem kleinen Kind weh tut, auch nicht Ihren Kindern.“ 
Aber der Busfahrer grinste und sagte, seine Tochter würde nicht lügen, und dass ich eines Tages meinen Schöpfer treffen und die Verantwortung für das übernehmen müsste, was ich dort tat "indem ich den Feind unterstützte". Danach ließ er die beiden Jungen verhaften. 
Für mich war es unaussprechlich frustrierend zusehen zu müssen, wie diese beiden unschuldigen Jungen weggebracht wurden. Es war ein Gefühl völliger Hilflosigkeit, zu erfahren, dass ich nichts tun konnte, dass meine Zeugenaussage völlig wertlos war. 
Die Jungen wurden am nächsten Tag freigelassen, aber natürlich erst, nachdem ihre Familien eine Kaution bezahlt hatten. 
Aber Kaution sollte man es eigentlich nicht nennen. Es war eher ein Lösegeld. Palästinenser, oft Teenager, wurden ständig verhaftet, meist ohne jeglichen Grund. Die Eltern wurden dann aufgefordert, eine Kaution zu zahlen, wenn sie ihre Kinder zurückbekommen wollten. Wenn die Anklage dann fallen gelassen wurde, wurde die „Kaution“ zur „Geldstrafe“ umgewandelt  und nie zurückerstattet. 
Vielleicht braucht  der Staat Israel ja etwas zusätzliches Geld. So eine Besatzung ist schließlich teuer. 
Für die meisten Palästinenser ist diese „Kaution“ eine Menge Geld. Viele Familien leben an oder unter der Armutsgrenze.
 
Ich habe einmal gesehen, wie eine palästinensische Bäuerin ihren jugendlichen Sohn freikaufte. Sie trug die traditionelle palästinensische Tracht. In ihrem Mund fehlten einige Zähne. Während sie vor dem Tor der Polizeistation wartete, hielt sie einige Geldscheine in der Hand und schwenkte sie jedes Mal dann in die Kamera über unserem Kopf, wenn sie ein Knistern in dem kaputten Lautsprecher hörte. Sie wollte denen zeigen, die an der Überwachungskamera saßen, dass sie das Geld hatte, um ihren Sohn aus dem Gefängnis zu holen. Diese Bäuerin war eindeutig keine Person, die über überflüssiges Geld verfügte. Drei kleine Mädchen hielten sich ängstlich an ihren Rockzipfeln fest, während sie mit uns anderen stundenlang in der heißen Sonne vor dem Tor der israelischen Polizeistation warteten. Wir ISM Aktivisten waren dort, um eine weitere nutzlose Anzeige wegen eines Siedlerangriffs auf uns einzureichen. Es schien eine solche Zeitverschwendung zu sein. Aber unsere palästinensischen Organisatoren dachten, es wäre gut, dass es zumindest offizielle die Berichte von diesen Angriffen gäbe.
Und für mich war es wieder eine gute Gelegenheit zu beobachten, wie Palästinenser von israelischen Behörden behandelt wurden.

 Außer der Bäuerin mit ihren kleinen Kindern warteten auch viele andere Palästinenser. Stundenlanges Schlangestehen vor Checkpoints oder verschlossenen Toren von israelischen Behörden ist für Palästinenser die normale Routine. Die anderen Palästinenser, die an jenem Tag vor dem Tor der Polizeiwache warteten, mussten vermutlich für irgendetwas eine Genehmigung einholen – Palästinenser brauchen für viele Alltagsdinge Genehmigungen der israelischen Polizei, wenn sie zum Beispiel Sachen von einem Ort in der Westbank zu einem anderem transportieren wollten. Das normale wirtschaftliche Leben wird dadurch fast unmöglich gemacht. 
Nachdem wir etwa drei Stunden draußen in der heißen Sonne gewartet hatten (die Temperaturen steigen dort zu der Jahreszeit bis zu über 40 Grad im Schatten,  hörten wir ein Knistern und eine undeutliche Ansage aus dem Lautsprecher. Danach gingen die meisten der wartenden Palästinenser stillschweigend und achselzuckend wieder weg. Das schien zu bedeuten, dass an diesem Tag keine Genehmigungen mehr ausgestellt werden würden. 
Aber wir beiden ISM-Leute kamen schließlich doch noch dazu, unsere Anzeige einzureichen, und der Bäuerin wurde  erlaubt, ihren Sohn aus dem Knast freizukaufen. Als wir gingen, sahen wir, wie auch sie die Polizeistation verließ, neben ihr ein Teenager und die drei kleinen Kinder im Schlepptau. All diese tagtäglichen Demütigungen nahmen die meisten Palästinenser mit unglaublicher Gelassenheit immer wieder einfach hin. So ist nun einmal das Leben eines Palästinensers in Palästina. Jeder weiß es, also passt man sich an.

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Der Albtraum einer Familie

Aber dann gibt es Situationen, an die man sich auch als Palästinenser nicht anpassen kann, von denen man sich nie mehr wirklich erholen können. 

Außerhalb der Sperrzone in Hebron, in der wir Aktisten die meiste Zeit verbrachten, liegt der Teil Hebrons der angeblich unter der Kontrolle der „Palästinensischen Autonomiebehörde“ steht. Diese so zu nennen, sei ein großer Witz, meinten unsere palästinensischen Freunde. Denn, so erklärten sie uns, diese "Autonomiebehörde“ habe die Autorität über den Straßenverkehr und die Straßenlaternen, und das sei auch schon alles. 

Die israelische Armee kann die Gebiete der "Autonomiebehörde" jederzeit betreten, in jedes Haus eindringen, jeden verhaften und so lange festhalten, wie Israel es für richtig hält, ohne jeglichen Haftbefehl, oft auch ohne Gerichtsverfahren und ohne dass die Gefangenen irgendwelche Rechte auf einen Anwalt oder Familienbesuche haben. Als ich dort war, wurde fast jede Nacht irgendjemand von israelischen Soldaten verhaftet. Und es war nicht unüblich, dass dabei auch jemand erschossen oder angeschossen wurde. 
Einer dieser schweren „Vorfälle“ ereignete sich während meiner Zeit in Hebron. Die Soldaten wollten spät in der Nacht jemanden verhaften. Sie klopften an die Tür eines Hauses. Als ein Junge öffnete, fingen sie sofort an, ihn zu verprügeln, und als seine Schwester versuchte, ihm zu helfen, schlugen sie auch sie. Das war zu viel für den Familienvater, einen älteren Mann von 63 Jahren. Er griff mit bloßen Händen ein und wurde in die Kehle geschossen. Als seine Frau verzweifelt versuchte, die Soldaten von ihrem Mann loszureißen, wurde auch sie in den Kopf geschossen. Dann begannen die Soldaten, alle anderen Familienmitglieder zu verprügeln, denn nun war die ganze Familie außer sich vor Verzweiflung. Zwei der Söhne versuchten, ihre Mutter in das Familienauto zu legen, um sie ins Krankenhaus zu fahren, da sie zu dem Zeitpunkt noch am Leben war. Doch die Soldaten beschlagnahmten die Autoschlüssel, ließen aber auch den palästinensischen Krankenwagen nicht passieren. 
Warum? 
Vermutlich weil die Frau höchstwahrscheinlich nicht überleben würde. Und es kam immer wieder vor, wenn israelische Soldaten auf Palästinenser schossen, dann entfernten deren Militärärzte die Kugeln, sodass die Armee behaupten konnte, das Opfer sei von einem Stein getroffen worden, den die Palästinenser selbst geworfen hätten. 
Aber diese Frau starb nicht sofort, als sie nach einer viel zu langen Wartezeit schließlich doch noch im Krankenhaus ankam, konnten die Ärzte nur noch ihren Hirntod feststellen. Am Ende war nicht einmal ganz klar, ob die Soldaten tatsächlich das richtige Haus gestürmt hatten oder ob sie eigentlich einen Nachbarn verhaften wollten. Am nächsten Tag wurde der Name einer der Söhne als angebliches Ziel der Soldaten bekannt gegeben. Der junge Mann ging selbst zur israelischen Polizeistation und stellte sich. Er erklärte den Beamten dort, dass er ohne Widerstand zu leisten mit ihnen gekommen wäre.  Dann fragte er, warum sie seiner Familie, seinen Eltern das antun mussten, warum nur? 
Die Polizisten schickten ihn sofort wieder nach Hause. 
Sicher ist es höchst unwahrscheinlich, dass die Soldaten vorhatten, diese beiden älteren Leute zu erschießen, als sie das Haus stürmten. Der Grund für den Tod dieser Menschen war die Besatzung selbst, ein Besatzungsregime, das bei nervösen oder schießwütigen jungen Soldaten immer wieder zu diesen Eskalationen der Gewalt geführt hatte.
 Wenn die Palästinenser keinen Schutz der Unverletzlichkeit ihrer privaten Bereiche haben, wenn israelische Soldaten jedes Haus jederzeit stürmen können und gegen die dortlebenden Menschen jede Gewalt anwenden können, die sie für nötig erachten, ohne jemals zur Verantwortung gezogen zu werden, dann kommt es immer wieder zu solchen Tötungen.
 Ich war natürlich nicht selbst vor Ort, aber einer unserer palästinensischen Organisatoren kannte die Familie gut.     Sobald er von dem Vorfall erfahren hatte, ging er zu dem Haus und sprach mit den Überlebenden der Familie. Als er zurückkam erzählte er uns, was er gesehen und sie ihm berichtet hatten. Das Haus sehe jetzt wie ein Schlachthof aus, sagte er. Überall sei Blut, an der Decke am Boden und an den Wänden. 
Er erzählte uns dann auch noch, was die Familie gerade getan hatte, kurz bevor die Welt für sie zusammengebrochen war:
 Sie hatten die Hochzeit von einem der Söhne geplant und sich gerade die Einladungskarten angeschaut, die frisch aus der Druckerei gekommen waren. Dieses Detail der Geschichte traf unseren Freund besonders hart. Er war ein junger Mann, der auch gerade dabei war, seine eigene Hochzeit zu planen, die bereits im nächsten Monat stattfinden sollte.


Die andere Seite Palästinas


Aber während ich all dieses Elend und die fast unerträgliche Ungerechtigkeit sah, lernte ich auch die andere Seite Palästinas kennen. Es gab die Tage und Nächte, die wir mit palästinensischen Familien verbrachten. Wir versuchten zu kommunizieren und arabisch zu lernen. Sie lehrten uns ein paar Worte und lachten darüber, wie lustig wir klangen. Die meiste Kommunikation fand jedoch immer noch mit Händen und Füßen statt, was auch viel Spaß machte.
 Die Leute öffneten für uns ihre Familienalben und wir zeigten ihnen ebenfalls Bilder von zu Hause. Sie boten uns immer richtig leckeres Essen an, viel besser als das, was wir in unserer bescheidenen Küche an dem Ort zubereiteten, an dem wir lebten.
Und gelegentlich leistete ich sogar ein bisschen ehrliche Arbeit. So wie hier, als einige andere internationale Helfer und ich einer palästinensischen Bauernfamilie halfen, Futter für ihre Ziegen von ihrem Feld zu ernten. Bisher war die Familie jedes Mal, wenn sie versuchte, ihre Ziegen auf das Feld zu bringen oder das Futter selbst zu schneiden, von Siedlern angegriffen worden. Die Siedler wollten das Land der Familie übernehmen, um einen Weg zwischen zwei Siedlungen zu bauen und gleichzeitig die palästinensischen Bauern von ihrem Zufahrtsweg nach Hebron abzuschneiden. 
Hier sind zwei Kinder der Familie:


   .

  Dann gab es den Tag, an dem ein Begleiter und ich von einer ganzen Gruppe israelischer Siedlerkinder angegriffen und gegen ein Geländer gedrückt wurden. Sie traten weiter auf uns ein und es gab keinen Ausweg – wir konnten uns nicht einmal umdrehen und versuchen, über das Geländer zu klettern. Ein israelischer Soldat rannte von seinem Posten auf der anderen Straßenseite die Treppe hinunter. Er sagte den Siedlerkindern, sie sollten aufhören, aber sie taten es nicht. Er drängte sich durch die Gruppe und stellte sich zwischen sie und uns. 
Sie traten immer noch um ihn herum, vielleicht haben sie ihn sogar mit ihren Tritten getroffen. Aber jetzt war es für uns relativ sicher, so lange bis schließlich die Polizei eintraf und die Kinder wegliefen. Als ich den Soldaten wiedersah, dankte ich ihm. Er nickte nur und winkte ab – er wollte nicht darüber reden.


  Jeden Samstag trafen wir auf der Straße einen ehemaligen israelischen Soldaten, der der „Breaking the Silence“-Bewegung angehörte. Er war einst in Hebron stationiert gewesen. Er führte jedes Mal eine Gruppe von Israelis oder Amerikanern herum und erklärte ihnen, was die Besatzung den Menschen in Hebron angetan hatte.
 Und denjenigen, die an seinen Touren teilnahmen, wurden möglicherweise zum allerersten Mal die Augen für die Fakten geöffnet. 
(Die Siedler machen übrigens ihre eigenen Touren, und zwar ungefähr zur gleichen Zeit und durch das gleiche Viertel, und doch sehen ihre Besucher unterschiedliche Dinge. Augen sind nicht das Einzige, was man braucht, wenn man wirklich sehen will …) 
Dann gab es die Zeiten, wenn die israelischen Menschenrechtsaktivisten kamen, um sich unseren palästinensischen Freunden und uns anzuschließen. Wenn wir zusammen waren, hatten wir immer wieder das Gefühl, dass es zwischen uns allen keine Unterschiede mehr gab. Zwischen den Palästinensern und diesen Israelis hatten sich tiefe Freundschaften entwickelt. 
An einem Abend gingen wir zusammen in ein Kaffee. Der Israeli war etwas nervös, sich uns anzuschließen, da dieses Kaffee außerhalb der Sperrzone von Hebron, im Gebiet der „Palästinensischen Autonomiebehörde“, lag. 
Doch einer der Palästinenser legte ihm den Arm um die Schulter und sagte zu ihm: 
„Hab keine Angst! Niemand würde dir da draußen jemals etwas tun, du gehörst doch zu uns.“ 
Einmal gingen wir zu einer Demonstration, an der auch israelische Friedensaktivisten teilnahmen. Als die Soldaten anfingen, Leute zu verhaften, versuchten sie auch, einen der Israelis mitzuzerren, und die Palästinenser taten genau, was sie immer taten, wenn jemand von den Soldaten gepackt wurde: 
Sie versuchten, ihn herauszuziehen, und es gelang ihnen auch. 
Wenn ein Palästinenser aus einer "illegalen" Demonstration  heraus verhaftet wird(und Israel erklärt praktisch alle palästinensischen Demonstrationen für illegal), kann es sein, dass er für Jahre ins Gefängnis geworfen wird; ein internationaler Menschenrechtsaktivist wird nur nach Hause abgeschoben und ein Israeli bleibt nur für ein oder zwei Tage im Gefängnis. Und doch, wenn die Israelis auf palästinensischer Seite demonstrieren, gehörten sie zu ihnen. Und die Palästinenser kämpften für sie, genauso wie sie es für ihre eigenen Demonstranten getan hätten, unabhängig von den Risiken für sie selbst. 
Ein Volk, das auf der ethisch richtigen Seite steht, kann großzügig sein, trotz allem, was ihm zuvor angetan wurde. Das „Niemals vergessen – Nie vergeben“ ist kein palästinensisches Motto. 
Darum weiß ich mit Sicherheit, dass es von palästinensischer Seite weit weniger Probleme geben würde, mit den israelischen Juden friedlich in einem gemeinsamen demokratischen Land zu leben, als umgekehrt.
Dann gab es diesen Abend, als unsere gesamte Gruppe von Aktivisten in jenem Teil von Hebron zu einer Geburtstagsfeier in ein palästinensisches Haus eingeladen wurde. Einer unserer Freunde ging voran und wir hinterher, wobei alle auf mich warten mussten, bis ich schwer schnaufend den Berg hinaufkam. Unser palästinensischer Freund lächelte und scherzte ein wenig über meine Langsamkeit.
 „Eines Tages“, sagte ich dann zu ihm, „wirst auch du alt sein.“ 
„Du bist noch nicht wirklich alt“, meinte er. 
Und nach einer Weile fügte er hinzu: „Manchmal komme ich mir vor als sei ich hundert Jahre alt.“ 
Jetzt endlich fand ich den Mut, die Frage zu stellen, die mir schon eine ganze Weile auf der Seele brannte: „Aber warum bist du dann immer noch so…“ Ich versuchte das richtige Wort zu finden „so glücklich?“ Es war das falsche Wort. Aber er verstand mich und wusste, dass ich nicht nur ihn allein meinte. 
„Wir müssen“, sagte er, „wir müssen weiterleben.“ 
Hier war er, ein weiser Mann von nur 22 Jahren, im Jahr 2007, dem Jahr, in dem ich in Palästina war. Die Geburtstagsfeier war dann eigentlich eine eine Überraschungs- Abschiedsfeier für mich, inklusive einer schönen Torte. Wir blieben drinnen im Haus und hatten eine schöne Zeit mit der Familie. Doch noch nur wenige Stunden vorher, hatte die Familie mit Verwandten, die zu Besuch gekommen waren in ihrem Garten gesessen und Tee getrunken, als eine Lawine aus Steinen auf sie niederging. Sie zeigten uns diese Steine, und einige davon waren wirklich groß. Eigentlich hatte die Familie großes Glück gehabt, dass niemand ernsthaft verletzt worden war. Die Steine waren aus der Richtung des Militärstützpunkts nebenan geworfen worden. Der Vater der Familie ging und beschwerte sich beim Armeekommandanten. 
Der Kommandant erklärte nur: „Wir waren es nicht.“ 
„Aber die kamen von der Basis“, beharrte unser Freund. 
„Nein“, erklärte der Kommandant rigoros, „Meine Soldaten machen so etwas nicht. Es müssen Siedler gewesen sein. Aber da Sie nicht gesehen haben, welcher von den Siedlern das getan hat, können wir Ihnen nicht helfen.“ 
Also ging unser Freund wieder nach Hause, zuckte die Achseln und bereitete mit seiner Familie die Party für mich und die anderen Menschenrechtsaktivisten vor.

Das Kind und die Patrone


Aber am lebhaftesten erinnere ich mich an die Kinder, die um uns herum und mit uns spielten, während wir die Checkpoints beobachteten. Wie alle Kinder überall lebten sie für den Augenblick. 

Sie brachten uns zum Lachen und ließen uns gelegentlich sogar die düstere Realität um uns herum vergessen. 


   

Der Junge oben im Bild ist Mohammed. Er ist ein Freund von Moussa.   Im Jahr 2007 war er 9 Jahre alt und ein aufstrebender palästinensischer Künstler. 
Moussa war gerade 11 Jahre alt, als ich in seiner Stadt Al Khalil (Hebron) war. 


Auf dem Bild links übt er Akrobatik für den Straßenzirkus, den einige ISM Aktivisten gelegentlich für die Kinder der Gegend organisieren. Im Hintergrund ist der Straßenkontrollpunkt mit den Soldaten im Schatten zu sehen. Der Name Moussa übrigens ist Arabisch für Moses. Moussa hatte fast immer dieses breite, schelmische Lächeln im Gesicht. An den meisten Tagen half er seinen Eltern nach der Schule im Laden. 

Aber wann immer er frei hatte, fuhr er mit seinem alten Fahrrad herum, das hauptsächlich mit Klebeband zusammengehalten wurde und etwa einmal am Tag seine Kette verlor. Das Fahrrad wurde für ihn tatsächlich etwas klein, und seine Bremsen waren Moussas Füße auf der Straße. Aber das waren nur kleine Hindernisse, denn Moussa fuhr es wie ein Rennrad, mit Haarnadelkurven und allem. Und manchmal führte er uns, dem staunenden internationalen Publikum, seine Fahrrad-Akrobatik vor. Wenn man Moussas breites Lächeln so ansah, hätte man nie erraten, was er in seinem kurzen Leben bisher bereits gesehen und gehört hatte. 
Moussa hatte die zweite Intifada  erlebt und später die Belagerung von Hebron, als sich die Soldaten auf den höchsten Hügeln und auf den Dächern vieler Gebäude postierten, darunter auch auf dem Dach von Moussas Elternhaus, und von dort aus auf alles schossen, was sich in ihrem Sichtfeld bewegte. 
Er hatte die Zeit erlebt, als es endlose Ausgangssperren gab, die oft wochenlang anhielten. Während dieser Ausgangssperren konnten die Menschen nicht einmal einkaufen gehen oder ihre Verwandten und Nachbarn besuchen. 
Einige von Moussas Verwandten waren in dieser Zeit verhaftet und ins Gefängnis gesteckt worden. Im Jahr zuvor war dann Moussa selbst von Siedlern angegriffen worden.

Sein FreundMohammed hatte ein Bild über den Vorfall gezeichnet. Er zeigte es mir.
 Man kann ganz deutlich das Haus von Mohammeds Familie sehen, mit den beiden Überwachungskameras, die die Soldaten auf dem Dach angebracht hatten. Und man konnte ein verängstigtes kleines Gesicht sehen, das aus einem der vergitterten Fenster schaute; (wahrscheinlich der kleine Mohammed selbst) Und vorne waren Soldaten und israelische Militärpolizisten mit ihren Panzerwagen und die „Mustoudinin“, die Siedler. Die Steine waren in der Luft und sie flogen – und Mohammed erzählte mir, die beiden kleinen Figuren am unteren Rand der Zeichnung, zuerst die auf dem Fahrrad mit einem großen Stein, der in seine Richtung flog, und dann die Person, die blutend und bewusstlos auf dem Boden lag, das waren beide Moussa. 
Manchmal sind die Soldaten nett zu Moussa und den anderen Kindern, manchmal aber auch nicht. Einmal drohten sie Moussa, dass sie ihn verhaften und nach oben auf den Gipfel des Hügels zu ihrer Basis mitnehmen, wenn er nicht genau tun würde, was sie von ihm wollten. Moussa wusste, dass in dieser Militärbasis Menschen gefoltert wurden; jeder wusste das.
 Eines Tages, als wir an dem Checkpoint beim Haus der Familie von Moussa ankamen, sahen wir einen Mann, der festgesetzt worden war. Wir hatten vor seiner Festnahme nicht gesehen, was passiert war, und wir konnten nicht mit ihm kommunizieren. da er kein Wort englisch sprach. Moussa kam vorbei und wir baten ihn, für uns zu übersetzen. Moussa redete mit dem Mann und erklärte dann mit Händen und Füßen, dass die Soldaten dem Mann befohlen hatten, er solle  mitten auf der Straße seine Hose fallen lassen, und der Mann hatte sich geweigert. Die Soldaten riefen daraufhin die Militärpolizei, und der Mann wurde wegen Ungehorsams verhaftet und zum Militärstützpunkt verschleppt. 
Aber wir Aktivisten machten zuvor noch Fotos von der Verhaftung, um zu beweisen, dass er keine Verletzungen oder ähnliches hatte, bevor sie ihn dorthin transportierten. Der Mann wurde dann zum Glück am nächsten Tag wieder freigelassen. Seine Schwester rief bei uns an und bedankte sich, dass wir da gewesen waren. Sie sagte, dass es ihrem Bruder gut gehe. 
Und dann war da noch der Tag, an dem Moussa eine Maschinengewehrpatrone auf der Straße fand. Er war wie immer mit seinem kleinen Fahrrad unterwegs. Ich beobachtete wie so häufig gerade den Checkpoint. Plötzlich sah ich, wie Moussa anhielt, sich bückte und etwas vom Boden aufhob. Er stieg wieder auf sein Fahrrad und fuhr auf mich zu. 
Er blieb vor mir stehen, um mir zu zeigen, was er gefunden hatte. Es war eine Patrone, so lang wie die Hand des Kindes. Für mich sah sie bösartig und abstoßend aus. Die Kugel musste aus einem Munitionsgürtel gefallen sein. Nervös schaute ich über Moussas Schulter und wusste nicht, was ich ihm sagen sollte, ohne dass die Soldaten es bemerkt hätten. Bis dahin hatten die Soldaten sich nur miteinander unterhalten und hatten nichts gesehen. Sie hatten uns den Rücken zugekehrt. 
„Bad (böse)“, sagte Moussa und blickte auf die Patrone in seiner ausgestreckten Hand, „bad.“ 
Moussa schloss seine Hand fest um die Patrone, und fuhr eine weitere Runde auf seinem Fahrrad. Dann drehte er sich um und fuhr in Richtung der Soldaten. Er bremste mit seinen Füßen und blieb vor den Soldaten stehen. Dann übergab er die Patrone einem der Soldaten. Er stieg wieder auf sein Fahrrad, fuhr zu mir zurück und sagte mit seinem breiten, typischen Moussa-Lächeln: „Moussa, not bad!“ 
Nein, nein, mein kleiner Moussa, du bist nicht böse, wirklich und wahrhaft, du bist kein bisschen böse.


  

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